Endstation Vehlow

Nachdem die Registrierung absolviert ist, gilt es einen Platz in den überfüllten Zügen zu ergattern (aufgenommen in Gevgelija, Mazedonien, August 2014)
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Nachdem die Registrierung absolviert ist, gilt es einen Platz in den überfüllten Zügen zu ergattern (aufgenommen in Gevgelija, Mazedonien, August 2014)

Das Brandenburger Integrationskonzept setzt auf dezentrale Unterbringung. Aber welche Perspektiven haben Flüchtlinge in den strukturschwachen ländlichen Regionen? Mathias Richter reiste in die Prignitz und war positiv überrascht.

Es ist ein schlichter Wohnblock, wie er in der DDR am Rande fast jedes Dorfes irgendwann gebaut wurde, um den Arbeitern der LPG etwas Komfort zu bieten. Heutzutage wohnen in solchen Mini-Mietskasernen kaum noch Leute. Die graue Fassade ist schon ziemlich in die Jahre gekommen. Drinnen, im ersten Obergeschoss sitzt Quasem Khater in einer frisch renovierten Wohnung. Spartanisch eingerichtet: ein Tisch, eine Sitzecke, ein Fernseher in dem Al Jazeera mit den neuesten Nachrichten aus Syrien läuft. Quasem Khater verfolgt sie immer wieder mit einem Auge, während er erzählt. Denn Syrien ist seine Heimat.

Im Sommer 2015 hat er Damaskus verlassen, um dem Bürgerkrieg zu entkommen. Seit Anfang September ist er nun hier in Vehlow, einem kleinen Dorf mit zirka 500 Einwohnern im Landkreis Prignitz im Nordwesten Brandenburgs. „Es ist sehr ruhig hier draußen auf dem Land“, sagt der 31-Jährige, „vielleicht genau das Richtige, um in Deutschland anzukommen und sich an dieses Land zu gewöhnen.“

Das Integrationskonzept von 2014 – eine kleine Revolution

Dass es Quasem Khater in die tiefste Provinz verschlagen hat, hängt unter anderem mit der Integrationspolitik des Landes Brandenburgs zusammen. In dem 2014 beschlossenen Landesintegrationskonzept vollzog die rot-rote Landesregierung eine kleine Revolution. Jahrelang hat sich das Land eher reserviert gegenüber Migranten gezeigt. Selbst gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Osteuropäer hat sich Brandenburg so lange wie es nur irgendwie ging gestemmt. Doch neuerdings gelten Migranten offiziell nicht mehr als soziale Belastung für die heimische Mehrheitsgesellschaft, sondern ganz im Gegenteil als Bereicherung und Chance für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes.

Durch Zuwanderung, so die Hoffnung, kann der seit den 90er-Jahren sich vollziehende Bevölkerungsrückgang etwas abgeschwächt werden. Brandenburg setzt darauf, dass Migranten den notorischen Fachkräftemangel im Land etwas lindern könnten. Wörtlich heißt es daher im Landesintegrationskonzept: „Durch eine umsichtige Migrations- und Integrationspolitik sowie durch die Etablierung einer Willkommens- und Anerkennungskultur kann Brandenburg für Zuwanderinnen und Zuwanderer ebenso wie für Unternehmen aus dem Ausland interessant werden und die Menschen mit Migrationshintergrund, die bereits in Brandenburg sind, im Land halten.“

Brandenburg versucht daher, Flüchtlinge nicht in den Ballungsräumen in großen Sammellunterkünften zu konzentrieren, sondern sie möglichst flächendeckend übers Land verteilt in Wohnungen unterzubringen. Ähnlich wie in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz legt die Landesregierung in der Flüchtlingspolitik den Schwerpunkt auf Integration. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Das größte ostdeutsche Flächenland verliert seit 1990 kontinuierlich an Einwohnern - vor allem auf dem Land. Während die Bevölkerung in der Region um Berlin in den vergangenen Jahren rasant gestiegen ist, leben in den ländlichen Regionen immer weniger Leute. Und die werden immer älter.

So ist etwa die Bevölkerung in der Prignitz seit der deutschen Einheit um knapp 34 Prozent geschrumpft. Und die jüngste Bevölkerungsprognose kalkuliert einen weiteren Schwund um 16 Prozent bis 2030. Derzeit leben hier noch 36 Einwohner auf einen Quadratkilometer. Zum Vergleich: Im Main-Tauber-Kreis, einem der am dünnsten besiedelten Ecken Baden-Württembergs, wohnen durchschnittlich 100 Menschen auf einem Quadratkilometer.

Nach dem Königsteiner Schlüssel werden rund drei Prozent aller Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, nach Brandenburg verteilt. Sie landen meist zuerst in der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt im Osten des Landes (Landkreis Oder-Spree) oder einer ihrer derzeit zwölf Außenstellen. Von dort werden sie entsprechend der Bevölkerungszahl auf die 14 Landkreise und vier kreisfreien Städte weitergereicht. Der dünnbesiedelte Landkreis Prignitz erhält demnach 3,6 Prozent aller Flüchtlinge zugewiesen.

Freundlicher Empfang

Entsprechend dieses Reglements kam Quasem Khater nach Vehlow. Das Dorf ist die vorläufige Endstation einer langen Reise. Der gelernte IT-Experte stammt aus Dar’ā. Die Stadt liegt etwa 100 Kilometer südlich von Damaskus. In Dar’ā begannen 2011 die ersten Proteste gegen das Assad-Regime. Quasem Khater war nicht größer daran beteiligt. „Aber wenn in Damaskus jemand aus den Regierungskreisen  mitkriegt, dass du aus Dar’ā kommst, kannst du deines Lebens nicht mehr sicher sein“, sagt er. Quasem Khater lebte zuletzt in Damaskus. Sein Geld verdiente er als IT-Manager an der Börse. Als es für ihn in der syrischen Hauptstadt nicht mehr auszuhalten war, nahm er seine gesamten Ersparnisse und begab sich auf die Reise.

Die übliche Tour: über die Türkei und von dort mit einem Boot nach Griechenland. Ein kleines Boot für zehn Leute sei das gewesen, erzählt er. „Wir waren 47, aber du hast keine Wahl. Du zahlst, steigst ein und hoffst, dass alles gut geht“, sagt Quasem Khater und schaut besorgt auf die Al-Jazeera-Nachrichten. Danach ging es weiter mit dem Zug, mit Taxis oder zu Fuß bis nach Deutschland. 15 Tage Eisenhüttenstadt, 40 Tage in einer der Außenstellen der Erstaufnahmeeinrichtung in Frankfurt (Oder), zehn Tage Schönefeld (Landkreis Dahme-Spreewald) und schließlich Vehlow. „Ich kam mir vor wie Ibn Battuta“, sagt er in Anspielung an die überlieferten Geschichten eines arabischen Abenteurers, der im 14. Jahrhundert fast die gesamte damals bekannte Welt bereist haben soll.         

Hier in Vehlow kommt er erstmals seit langem wieder zur Ruhe. Zwölf Flüchtlinge leben in dem Wohnblock. Und anders als erwartet, hält sich das auf dem Land oft verbreitete Misstrauen gegenüber Fremden in Grenzen. Zwar gibt es in der Gemeinde Gumtow, zu der das Dorf gehört, keine Willkommensinitiative, aber es gibt zahlreiche Einzelpersonen, die sich um die Flüchtlinge kümmern. Leute, die mit Sachspenden aushelfen, die die Flüchtlinge bei Behördengängen begleiten, sie zu Einkäufen in die nächste kleinere Stadt mitnehmen, ja sogar Deutschkurse geben. Denn all das ist auf dem flachen Land aufgrund der schlechten Infrastruktur nicht einfach. Einen Laden gibt es in Vehlow nicht, und der nächste Sprachkurs ist weit. Ohne Busticket oder eben fremde Hilfe läuft da nichts. Quasem Khater ist trotzdem gerne hier. „Die Leute sind so liebenswert zu uns. Vor allem die Älteren im Dorf verstehen uns, weil sie aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs wissen, was Flucht bedeutet“, sagt er. Ganz anders, als er dies von Freunden aus einer Unterkunft in Berlin gehört habe, bei denen schon Bierflaschen durch die Fensterscheiben geflogen seien.

Attacken auf Flüchtlingsheime

So etwas – und Schlimmeres – kann in Brandenburg freilich auch passieren. Attacken auf Flüchtlingsheime sind bedauerlicherweise keine Seltenheit. Bei dem bislang übelsten Anschlag brannte im August 2015 in Nauen im Landkreis Havelland die Sporthalle des dortigen Oberstufenzentrums nieder. Die Halle war als Notunterkunft für 100 Flüchtlinge vorgesehen. Demonstrationen gegen Flüchtlinge werden meist under cover, gelegentlich auch offen von der NPD initiiert – und in der Regel von Gegendemos gekontert. Doch auch im sogenannten bürgerlichen Lager wird Stimmung gemacht. So war sich etwa Arne Raue, der parteilose Bürgermeister der Stadt Jüterbog im Landkreis Teltow-Fläming, nicht zu schade, die Bevölkerung dazu aufzurufen, sich von Flüchtlingen fern zu halten, weil sie angeblich gefährliche Krankheiten nach Deutschland einschleppten. Das Pegida-Phänomen konnte sich allerdings bislang noch nicht nach Brandenburg ausbreiten. Dafür machte die einst als euro-skeptisch gestartete AfD unter ihrem Parteivorsitzenden Alexander Gauland 2014 einen reinen Asyl-Wahlkampf und versucht auch, seit ihrem Einzug in den Landtag, wo es geht rassistische Vorurteile zu bedienen und die Stimmung gegen Flüchtlinge anzuheizen.

Einen besonderen Coup landete sie im Wahlkampf dadurch, dass sie noch vor der Landesregierung deren Pläne für eine weitere Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge mit 800 Plätzen in einer leerstehenden Bundeswehrkaserne in Doberlug Kirchhain (Landkreis Elbe-Elster) publik machte und damit nicht nur die die dortige Bevölkerung gegen die Flüchtlingspolitik von SPD und Linken aufbrachte. Nachdem auch die oppositionelle CDU auf den Zug aufsprang, änderten Rot-Rot und die meisten Kommunen im Land die Kommunikationsstrategie und begannen ihre Planungen rechtzeitig in öffentlichen Diskussionsveranstaltungen vorzustellen.

Eine Strategie, die im Großen und Ganzen recht gut funktioniert, weil viele unbegründete Befürchtungen dadurch ausgeräumt werden können - wenngleich hartnäckigen Vorurteilen dadurch kaum beizukommen ist. Nach einer Umfrage des Rundfunks Berlin Brandenburg (RBB) und der in Frankfurt (Oder) erscheinenden Märkischen Oderzeitung finden 53 Prozent der Brandenburgerinnen und Brandenburger, dass Flüchtlinge das Leben im Land nicht bereichern, nur 36 Prozent halten sie für eine Bereicherung. Derweil versucht Brandenburgs Innenminister Karl-Heinz Schröter (SPD) den gegenüber Ausländern eher unfreundlich gestimmten Teil der Bevölkerung zu beschwichtigen, indem er schnellere Abschiebungen fordert und den Flüchtlingen anstatt Bargeld nur noch Sachleistungen zugestehen will. Das Leben in Brandenburg soll für sie also möglichst ungemütlich gemacht werden.   

„Aktion tolerantes Brandenburg“ trägt Früchte

Dass in Brandenburg derzeit jedoch keine besonders ausgeprägte Ausländerfeindlichkeit zu verzeichnen ist, ist nicht selbstverständlich. Es gab schon andere Zeiten. Im November 1990 wurde in der Stadt Eberswalde (Landkreis Barnim) der ehemalige DDR-Vertragsarbeiter Amadeo Antonio aus Angola von einer Gruppe aus 50 rechtsradikalen Jugendlichen erschlagen. Antonio war eines der ersten Opfer rechter Gewalt nach der deutschen Einheit – und nicht das einzige in Brandenburg. Die Täter wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. In den 90er-Jahren marschierten auf dem Friedhof des Dorfes Halbe (Dahme-Spreewald), wo 1945 die Wehrmacht ganz in der Nähe eine der letzten und blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkrieges gegen die Rote Armee erlebte und 60.000 Menschen starben, am Volkstrauertag regelmäßig größere Gruppen von Neonazis zu einem sogenannten Heldengedenken auf.

Erst 2003 schlossen sich landesweit Parteien und Vereine zu einem Aktionsbündnis zusammen, um den Spuk durch Gegendemonstrationen zu beenden. Es dauerte weitere drei Jahre bis der damalige Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) bei einem Bürgerfest auf dem Friedhof eine Rede gegen die Nazis hielt. Vor dem Hintergrund zunehmender Ausländerfeindlichkeit und rechter Gewalt im Land entwickelte die damalige rot-schwarze Landesregierung das Aktionskonzept „Tolerantes Brandenburg“, das zum Ziel hatte Zivilcourage und Demokratiebewusstsein unter den Bürgerinnen und Bürgern zu stärken.

Ein typisch sozialdemokratisches, von oben oktroyiertes Konzept, das allerdings mittlerweile offenbar Früchte trägt. Wie überall in der Bundesrepublik schossen auch in Brandenburg im Sommer 2015 Willkommensinitiativen aus dem Boden. Vor allem in den dicht besiedelten Regionen um Berlin bildeten sich Kreise von Unterstützerinnen und Unterstützern. Beispiel Falkensee, eine Kleinstadt im Havelland, westlich von Berlin, in die seit 1990 viele Leute aus dem Westen und aus der Hauptstadt gezogen sind. Die Anzahl der Einwohner hat sich mit rund 40.000 seitdem etwa verdoppelt. Zeitweilig kümmerten sich dort rund 60 Freiwillige um 64 Flüchtlinge.

Aber es gibt eben nicht nur in den Boomregionen engagierte Bürgerinnen und Bürger. Christina Tast (48) lebt seit Anfang der 90er-Jahre in der Prignitz. In dem 60-Seelen-Dorf Klein Leppin – zirka 20 Kilometer südwestlich von Vehlow - betreibt sie den Verein „Festland e.V.“ der gemeinsam mit Profis und Dorfbewohnerinnen und –bewohnern jedes Jahr im Sommer in einem zum Konzertsaal umgebauten alten Schweinestall eine Oper aufführt. Das ganze Dorf singt oder organisiert mit. Die Veranstaltung „Dorf macht Oper“ ist seit Jahren ein Geheimtipp weit über Brandenburg hinaus und regelmäßig ausverkauft. Im vergangenen Sommer hat sie beim Aufbau und der Veranstaltungsorganisation fünf Flüchtlingen kleine Jobs verschafft. „Für die ist unser Konzertstall fast ein kleines Zuhause geworden“, sagt sie. Bei der Aufführung 2016 werden einige von Ihnen auf der Bühne stehen. Die Vorbereitungen laufen bereits. Auch daran sind Flüchtlinge beteiligt.

Einer von ihnen ist Quasem Khater. Er schreibt derzeit mit am Szenario. Das sei eine gute Beschäftigung hier draußen, findet er. Denn sonst hat er nicht sonderlich viel zu tun. Als Bürgerkriegsflüchtling ist er zwar anerkannt, eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis hat er, aber Arbeitsmöglichkeiten gibt es in der wirtschaftlich eher schwachen Region mit wenig Betrieben und einer Arbeitslosenquote von rund zehn Prozent nicht gerade viele. „Ich nutze die Zeit, um Deutsch zu lernen und die deutsche Kultur zu verstehen“, sagt er.

Quasen Khater ist exakt so ein Flüchtling, wie ihn sich Brandenburgs Landesregierung in ihrem Integrationskonzept vorstellt. Gut ausgebildet, flexibel, weltoffen. Solche Leute sollen im Land gehalten werden. Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) forderte dafür auf der 1. Flüchtlingskonferenz der Landesregierung Anfang Dezember 2015 von Verbänden, Gewerkschaften, Kirchen und Willkommensinitiativen eine gemeinsame Kraftanstrengung der Zivilgesellschaft: „Integration kann nicht von oben funktionieren, das kann nicht nur von einer Landesregierung bewerkstelligt werden“, so Woidke. Von der AfD abgesehen stehen in dieser Frage alle Parteien im Landtag hinter ihm. Weder die Grünen haben Grundsätzliches an der Flüchtlingspolitik von Rot-Rot auszusetzen noch die CDU, die im innerparteilichen Konflikt stramm zur Bundeskanzlerin steht.

Kritik kommt lediglich vom Flüchtlingsrat des Landes und den Willkommensinitiativen, die sich in konkreten Fragen von Politik und Verwaltungen im Stich gelassen fühlen. Bedenken äußern zudem Unternehmen und Kammern, die fieberhaft Fachkräfte suchen. Vor dem Hintergrund, dass nach ersten Erfahrungen der Arbeitsagenturen etwa zwei Drittel der Flüchtlinge keine Berufsausbildung haben, fordern sie schnelle Qualifizierungsmaßnahmen, damit sie in den Arbeitsmarkt integriert werden können.

Christina Tast will deshalb versuchen, in der Prignitz einen runden Tisch mit Helfern, Unternehmen und Verwaltungen zu organisieren. „Wir müssen überlegen, wie wir den Flüchtlingen hier in der Region eine Perspektive bieten können“, sagt sie. Quasem Khater sieht seine Perspektive nicht in der Prignitz. Er wartet auf seine Frau und die drei Kinder Hala (8), Silma (4) und Mohamed (2). „Sobald sie hier sind, werde ich eine andere Infrastruktur benötigen: öffentliche Verkehrsmittel, Einkaufsmöglichkeiten und einen Kindergarten“, sagt er. Quasem Khaters Frau ist Biologielehrerin und wird ebenfalls arbeiten wollen. „Wir werden wohl nach Dortmund oder Stuttgart gehen“, sagt der IT-Fachmann und hofft, dass das dann das Ende seiner langen Reise sein wird.

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Brandenburg finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).